Das Meer - die Wiege der Kalkalpen

Rudolf Stanzel

So wird es gewesen sein, vor 250 Millionen Jahren: Eine unerklärbare Umweltkatastrophe ließ 90 % aller Lebewesen aussterben. Darauf folgte die Bildung eines Meeres (Tethys), in dem sich ganz neue Tier- und Pflanzenarten entwickelten.

Das Mesozoikum mit seinen drei großen Abschnitten Trias, Jura und Kreide hatte begonnen und damit die Entwicklung der Kalkalpen. Was sich in unvorstellbar großen Zeiträumen ereignet hat, das ist in den Steinen und durch Fossilien wie in einem Geschichtsbuch aufgezeichnet, und es ist spannend darin zu lesen. Zugegeben: die Sprache ist ein wenig eigenartig, aber wer sich bemüht, wird sie bald verstehen.

Der Kalkstein wurde also in einem Meer abgelagert und gehört daher zu den Sedimentgesteinen, die weltweit eine Rarität darstellen, denn sie machen nur 3 % der Erdkruste aus.

Zu den ältesten Gesteinen in unserer Region gehören die roten, manchmal grünen, Werfener Schichten. Das Meer damals war seicht und warm, das wüstenartige Land nicht fern. Eine sanfte Dünung formte den Sand zu Rippen und wir können nach mehr als 200 Millionen Jahren diese Rippelmarken bewundern. Noch etwas verdanken wir diesem seichten Meer: In vielen Buchten verdampfte das Wasser und zurück blieb Salz und einige andere Mineralien. Wo später Wasser dazukam, da löste sich das Salz auf, die darüberliegenden, nicht löslichen Stoffe sanken ein und es entstanden sogenannte Salinarmulden. So erklärt man sich die Entstehung des Beckens von Windischgarsten.

Werfen wir nun einen Blick auf das Sengsengebirge. Es hieß früher einmal der lange Berg. Der weit hingestreckte Kamm weist auf seine Entstehung als Riff im Meer hin. Diesen Kalk nennt man Wettersteinkalk. Von den vielen riffbauenden Lebewesen konnten sich nur einige Korallen fossil erhalten.

Hinter dem Riff, zur Küste hin, erstreckte sich eine Lagune. Dort hat sich der mächtige Dachsteinkalk abgelagert. Er baut das ganze Tote Gebirge, das Warscheneckmassiv und die Hallermauern auf.

Manchmal ist er durch breite Bänder gekennzeichnet, wie an der Südflanke des Warschenecks. Die großwüchsigen und wegen der nahen Brandung dickschaligen Megalodonten, Muscheln, die als Fossilien wie Kuhtritte aussehen, sind den Bergsteigern gut bekannt.

Dem Wettersteinkalk und auch dem Dachsteinkalk ist dann Rätselhaftes passiert. Das Meer baute dem abgelagerten Kalkschlamm Magnesium ein, aus Kalkstein CaCO3 wurde Dolomit CaMg(CO3)2 und das hatte weitreichende Folgen. Der Dolomit verwittert nämlich mechanisch und nicht chemisch wie der Kalkstein. Er zerspringt, könnte man sagen, und dadurch bilden sich im Dolomit häufig bizarre Formen wie Türme und Däumlinge, Türken- und Bischofsköpfe. Zu Füßen dieser Schröcksteine liegt meist ein mächtiger Schuttfächer mit dem scharfkantigen Dolomitgrus, der den Anstieg kräfteraubend macht. Dachsteinkalk und Wettersteinkalk und ihre dolomitischen Brüder (Haupt- und Ramsaudolomit) bilden die Hauptmasse der Kalkalpen.

Die später im tiefer werdenden Meer des Jura abgelagerten Schichten haben sich nur punktuell erhalten. Sie sind sehr fossilreich. Da gibt es die kleinwüchsigen Brachiopoden. Sie sehen Muscheln sehr ähnlich, gehören aber zur Familie der Armfüßer. Die schön gedrehten Gehäuse der ausgestorbenen Ammoniten sind begehrte Sammelobjekte. Von den Tintenfischen finden sich häufig die kegelförmigen inneren Schalen, im Volksmund Donnerkeile genannt.

Im Jurameer weitverbreitet waren die Seelilien (Crinoiden) aus der Familie der Stachelhäuter. Der rosarote Hierlatzkalk besteht fast nur aus Skelettresten dieses Tieres.

Auf die Trias und dem Jura folgt die unruhige Kreidezeit. Berge wölbten sich empor, wurden aber bald wieder vom Meer überflutet. In diesen nach dem Ort Gosau benannten Schichten sammelte sich der Schutt der angegriffenen Gebirge. In den Gosaukonglomeraten finden sich viele der bisher erwähnten Gesteinsarten. Wo das vorrückende Gosaumeer nur auf eine Gesteinsart stieß, da bildete sich ein homogener Sandstein. Ein solcher Glücksfall bescherte uns den Dolomitsandstein, der als Werkstoff bei Baumeistern und Steinmetzen sehr beliebt ist.

Bei den Fossilien des Gosaumeeres ist auch die recht eigenartige Muschelfamilie der Hippuriten zu erwähnen. Sie haben zwei ungleiche Hälften. Die eine steckt wie ein verkehrter Pferdeschwanz im Boden, die andere funktioniert wie ein Deckel. Trümmer ihrer dicken Schalen sind häufig zu finden. Berühmt aber sind die in der Brandung lebenden und daher mit einer dicken Schale ausgestatteten Schnecken. Davon gibt es zwei leicht zu unterscheidenden Arten: die bauchigen Actaeonellen und die länglichen Nerineen. Wo die Gehäuse in Massen zusammengeschwemmt wurden, da entstanden die so begehrten Schneckensteine, die jetzt so manchen Hausgarten zieren. Man sollte sie nur mit Reisbürste und Wasser vorm Verwittern zu schützen.

Bisher haben wir uns mit dem Meer befaßt und erkannt, dass der Meeresboden die Wiege des Kalksteins ist. Nun kommen wir zu den turbulenten Vorgängen, die daraus ein Gebirge machten. Ungeheure Kräfte, die heute noch wirken und Erdbeben auslösen, sind am Werk. Damals zerfiel ein Urkontinent (Pangäa) in einzelne Platten und die Kontinente treiben seither auf der Erdoberfläche und stoßen da und dort gegeneinander. Bei uns drängt Afrika mit der Adriaplatte nach Norden und stauchte die Ablagerungsräume gewaltig zusammen. Dabei wurden mächtige Gesteinspakete, man nennt sie Decken, übereinander geschoben, ältere über jüngere, weit entfernt Entstandenes rückte eng heran. Allein in der Nationalpark-Region unterscheidet man vier solche Überschiebungsdecken: Im Norden die sanften Hügel der Flyschdecke, südlich davon die Ternberger und dann die Reichraminger Decke und westlich davon die Decke des Toten Gebirges.

Der Flysch diente den drei anderen Decken auf ihrer kilometerweiten Reise nach Norden als Schmiermittel. In der Tat ist Flysch unter den Gebirgen in großer Tiefe anzutreffen. Das hat auch die Bohrung in Molln/Breitenau erwiesen und damit das Windischgarstner Flyschfenster, über dessen Herkunft seit 1936 wild gestritten worden war, endlich bestätigt.

Je weiter man in die Geheimnisse der Entstehung unseres Planeten eindringt, desto größer wird das Staunen über die wunderbaren Gesetze der Natur, und auch das Erschrecken darüber, was der Mensch in ein paar Sekunden Erdgeschichte verändern konnte. Und daran ist der Kalk ganz entscheidend beteiligt. Ohne Kalk kein Mörtel, ohne Kalk kein Zement. Auch als Gestein war der Kalk schon immer ein wichtiges Baumaterial. Vom Riepelsberger Steinbruch kam der Sandstein für die herrlich Fassade der Spitaler Kirche und für die vielen Heiligenfiguren und Steinportale der Bürgerhäuser wurde er verwendet. In neuerer Zeit baute man damit die Viadukte und Tunnelverkleidungen der Eisenbahn.

Als Schmuckstein war der Spitaler Marmor, eine seltene Sonderform des Dachsteinkalkes, sehr beliebt und ist in der ganzen Region zu finden. Wenn man dies alles bedenkt, dann sollte die Achtung vor den Steinen steigen. Zu Flora und Fauna müßte man immer Gea stellen, denn nicht nur die Pflanzen- und Tierwelt in den Kalkalpen ist einzigartig, sondern auch das Gestein, der Grund und Boden für alles Leben.